aus Matices 67 (02/2011) – www.matices.de
Lateinamerikanische Langsamkeit.
Das Independent-Filmfest in Buenos Aires Bafici 2011 – eine subjektive Rückschau
von Philipp Hartmann
Wie immer bestach das Buenos Aires Festival Internacional de Cine Independente BAFICI auch 2011 durch eine hochkarätige Auswahl unzähliger unabhängiger Filme aus der ganzen Welt. Nicht nur Godard´s Film Socialisme oder Herzogs grandioses 3D-Dokumentarfilm Cave of Forgotten Dreams füllten die Sääle des – so gar nicht zum Independent-Film passenden Multiplexkinos Abasto bis auf den letzten Platz. In den Programmen des argentinischen und internationalen Wettbewerbs sowie in den diversen Sonderprogrammen waren viele Vorstellungen schnell ausverkauft. Auffällig dabei, dass die meisten Filme trotz – oder vielleicht gerade wegen – ihrer sehr unkonventionellen Form auf ein breites und sehr offenes Publikum stießen. Selten erlebt man so volle Kinos und solch intensive Diskussionen nach den Filmen. Und die Geduld und Begeisterung der Zuschauer auch extrem langsamen Filmen gegenüber wünschte man sich auch bei anderen Festivals wie der Berlinale, wo oft nach wenigen Minuten ohne Action das halbe Kino den Saal verlässt. Vielleicht liegt es daran, dass beim Bafici das gestresste Fachpublikum in der Minderheit ist und vielmehr die “normalen”, filminteressierten Besucher die Mehrheit bilden. Oder sind die Argentinier einfach offener als anderenorts für den unabhängigen, “experimentellen” Film?
Langsame Bilder
In der subjektiven Auswahl der Filme mit Lateinamerikabezug fiel auf, dass die beobachtende Langsamkeit, die den sog. “neuen argentinischen Film” schon seit einigen Jahren auszeichnet, auch in anderen lateinamerikanischen Ländern Schule zu machen scheint. Pablo Larraín, der vor einigen Jahren mit dem Film Tony Manero Aufmerksamkeit erregte, präsentierte beim Bafici seinen neuen Film Post Mortem. Erneut befasst sich der chilenische Filmemacher mit scheinbar privaten Beziehungen unpolitischer Bürger während der Pinochet-Diktatur. Die politischen Auseinandersetzungen und der Terror der Militärs, zunächst nur Hintergrund für die Geschichte, werden auch in Post Mortem schnell zur existenziellen Determinante im Leben der Protagonisten. Gipfelnd in einer unvergesslichen, gefühlte zehn Minuten währenden ungeschnittenen Katharsis am Ende des Films. Auch Verano de Goliat von Nicolás Pereda (bester Film in der Sektion Cine del Futuro)zeigt in wunderbar langsamen Bildern die lähmende Routine in einem Mexikanischen Dorf. Ausgehend von einer Serie von (fiktiven?) Interviews mit Kindern aus dem Dorf, die von einem Jungen berichten, der offenbar seine Freundin umgebracht hat, entspannt sich ein Netz von Andeutungen einer Handlung, die sich immer mehr in verschiedene Richtungen auseinander bewegt. Eine Frau wurde von ihrem Mann wegen einer Anderen verlassen, zwei halbstarke Jungs in Militäruniformen ziehen durch einen Wald, erschrecken einen unbedarften Rentner und suchen einen Weg, von dem sie selbst nicht zu wissen scheinen, wohin er führt. Später wird einer der beiden – des Lesens unkundig – einen Brief seiner Mutter auswendig lernen, den er seinem Vater, der die Familie verlassen hat, überbringen soll. Der Text wird so oft wiederholt, dass am Ende der Zuschauer den Brief ebenfalls verinnerlicht hat. Das alles geschieht in einer unglaublichen Langsamkeit und Lethargie und bleibt dennoch bis zum Schluss spannend und unterhaltsam.
Dies trifft leider nicht auf Thomas Heises neuen Film Sistema Solar (Sonnensystem) zu. Der legendäre (ost)deutsche Dokumentarfilmer wagt sich hier – ungewöhnlich – an ein nicht-deutsches Thema. Heise und sein Team verbrachten mehrere Wochen damit, ein kleines Dorf im äußersten Norden Argentiniens zu beobachten. Die Tatsache, des Spanischen nicht mächtig zu sein spielte dabei, wie Heise bei der Vorstellung des Films in Buenos Aires betonte, für ihn eine wichtige Rolle, um in der Position des fremden Beobachters zu bleiben. Dies wird aber im Verlauf des Films zunehmend zum Problem, denn trotz einiger wunderschöner Bilder, einem ausgeklügelten Ton und verschiedenen feinfühlig gezeigten kleinen alltäglichen Begebenheiten (wie einer traditionellen karnevalesken Prozession, die direkt in ein kollektives Besäufnis überzugehen scheint oder einer Szene in der das gesamte Dorf gemeinsam einen umgestürzten Traktor wieder aufrichtet) bleibt der Film doch seltsam – im negativen Sinne – unbeteiligt. Vielleicht entbehrt Sonnensystem dann doch aufgrund der fehlenden Sprache dessen, was Heises Filme sonst zu stillen Meisterwerken macht – der auch verbale Austausch mit den Protagonisten. So erscheint der Film doch zu sehr als Auftragsarbeit für das Goethe-Institut in Buenos Aires, das als Unterstützer des Film gelistet ist. Diesen Eindruck verstärkt noch der Schluss des Films: nachdem man einige Bewohner des Dorfes einen Bus besteigen sieht, schließt sich eine lange spektakuläre Fahrt vorbei an einer Villa Miseria, einem typischen argentinischen Großstadt-Slum an, untermalt von dem Musikstück „Lacrymosa“ des usbekischen Komponisten Dmitri Yanov-Yanovski. Filmisch vielleicht der stärkste Teil des Films, erweist sich die Botschaft, die Wurzeln und die Heimat nicht zu verlassen, um im Elendsviertel zu enden – in diesem Kontext doch als etwas sehr didaktisch.
Ausgezeichnete Laiendarsteller
Großartig hingegen der mit dem Preis für die beste Kamera ausgezeichnete neueste Film des jungen argentinischen Regisseurs Ivan Fund Hoy no tuve miedo. Fund, der zusammen mit Santiago Loza im vergangenen Jahr mit Los Labios Erfolge feiern konnte (u.a. in Cannes sowie in Deutschland beim Filmfest Hamburg 2010), knüpft in seinem neuen Werk an die Erzählweise von Los Labios an. Wieder stehen drei Frauen im Zentrum des ersten von zwei Teilen des Films. Die Kamera begleitet die drei in ihrem Alltag, ohne dass sich eine eindeutige Handlung oder Dramaturgie manifestiert. Das Geschehen bleibt auf hochinteressante Weise derart unbestimmt, dass – wie schon in Los Labios – die Grenzen zwischen dokumentarischer Beobachtung und inszenierter Handlung verschwimmen. Meisterhaft führt der junge Regisseur aus Córdoba die drei Laiendarstellerinnen (oder lässt er sich mit seiner Kamera von ihnen leiten?), die ihren eigenen Alltag spielen. Im zweiten Teil des Films, der nach dem Abspann des ersten mit einem neuen, eigenen Vorspann startet, geht Fund noch einen Schritt weiter. Weitere Personen kommen hinzu, Handlungen zwischen ihnen sind kaum mehr zu erkennen. Dafür legt der Film seine eigene Machart offen – immer wieder ist das Filmteam zu sehen, das mit verschiedenen Kameras das Geschehen erfasst und so Teil desselben wird.
Eine wahre Entdeckung ist auch der Film La vida útil von Federico Veiroj aus Uruguay. Die kleine schwarz-weiße Geschichte um den Programmdirektor der von der Schließung bedrohten Cinemathek in Montevideo beginnt zunächst recht konventionell, kippt aber in der Mitte des Films plötzlich in eine wunderschöne seltsame und hochinteressante Form eines filmischen Musicals. Der Hauptdarsteller, der als Schauspieler bislang nicht in Erscheinung getretene uruguayische Filmkritiker Jorge Jellinek, erhielt für seine Performance prompt die Auszeichnung als bester Schauspieler.
Kollektivgeist und Monster
Mit einer lobenden Erwähnung schließlich wurde Os Monstros aus Brasilien ausgezeichnet. Der fünfte Langfilm des Filmemacherkollektivs Alumbramentoaus Fortaleza (Regie: Guto Parente, Ricardo Pretti, Luiz Pretti und Pedro Diógenes) bewies erneut, dass in Brasilien abseits der Achse Rio-São Paulo derzeit die vielleicht interessantesten Filme entstehen. Hier spiegelt die Handlung gewissermaßen die Machart des Films wieder. Drei Freunde – ein Musiker und zwei Tonmänner – streunen einsam, von Depressionen, Alkohol und erniedrigenden ausbeuterischen Jobs gebeutelt durch die Nacht, getrieben von der ungestillten Sehnsucht, im kreativen Erschaffen dem Dasein einen Sinn zu geben. Die Leere und Langeweile des Nichts-Geschieht übertragen sich dabei zum Teil fast quälend auch auf den Zuschauer. Erst als der vierte im Bunde, der Zwillingsbruder des Musikers mit seiner Gitarre aus der Fremde zurückkehrt, scheißt sich der Kreis und der Film kulminiert in einer zehnminütigen Improvisation von Gitarre und einem seltsamen handgemachten Blasinstrument, aufgenommen von den beiden Tonmännern. Ein Happy End, wie es einige Produktionen aus Ceará derzeit auf diversen Festivals erleben – stets getragen vom Kollektivgeist der Macher und dem Willen sich nicht von mangelnden Mitteln und dem Diktat von Markt und Filmindustrie unterkriegen zu lassen. Schade nur, dass solche Filme selbst in ihrer Heimatstadt Fortaleza das breite Publikum jenseits von Filmfestivals nie erreichen werden. Wenigstens in Buenos Aires waren immerhin mehrere Vorführungen des Films ausverkauft.